Offenbarung 10 – Kein weiterer Aufschub

A. Der starke Engel

1. Ein starker Engel steigt aus dem Himmel herab

Offenbarung 10, 1

Offenbarung 10, 1
Und ich sah einen anderen starken Engel aus dem Himmel herabsteigen, bekleidet mit einer Wolke, und ein Regenbogen war auf seinem Haupt; und sein Angesicht war wie die Sonne und seine Füße wie Feuersäulen.

  1. Und ich sah einen anderen starken Engel: Offenbarung 9 endete mit dem Schall der sechsten von sieben Posaunen, der das Ende aller Dinge einläutete. Anstatt der siebten Posaune folgt nun ein weiterer Einschub, der bis Offenbarung 11, 15 geht.
    1. Diese Einschübe dienen einem dramaturgischen Zweck, zeigen aber auch Gottes Gnade, indem er den Menschen mehr Gelegenheit zur Buße gibt. Es ist, als ob Gott die Dinge an den Rand des Verderbens gebracht und sich dann ein wenig zurückgehalten hätte, um der Menschheit mehr Zeit zur Umkehr zu geben.
  2. Einen anderen starken Engel aus dem Himmel herabsteigen: Viele halten diesen starken Engel, diesen Boten, für Jesus, weil einige der Bilder auch auf ihn zutreffen. In Offenbarung 1, 15-16 heißt es auch von Jesus, dass sein Angesicht leuchtete wie die Sonne in ihrer Kraft.
    1. Dennoch werden Engel weder im Buch der Offenbarung noch im Neuen Testament eindeutig mit Jesus identifiziert, obwohl er im Alten Testament eindeutig mit dem Engel des Herrn in Verbindung gebracht wird. Eine bessere Theorie ist, dass es sich bei diesem starken Engel um den Engel Michael handelt, mit dem er ein paar Gemeinsamkeiten hat (Daniel 12, 1 und 12, 6-7).
    2. Wer auch immer er genau ist, „dieser Engel ist eindeutig aus der unmittelbaren Gegenwart Gottes gekommen“ (Barclay), und er verfügt über große Macht und Autorität.
  3. Ein Regenbogen war auf seinem Haupt: Der Regenbogen ist nicht nur eine Erinnerung an Gottes Verheißung gegenüber der Menschheit, sondern er ist auch ein natürliches Ergebnis, wenn die Sonne durch eine Wolke (durch Regentropfen) scheint.

2. Der Engel ruft und sieben Donnerstimmen ertönen

Offenbarung 10, 2-3

Offenbarung 10, 2-3
Und er hielt in seiner Hand ein offenes Büchlein; und er setzte seinen rechten Fuß auf das Meer, den linken aber auf die Erde, und er rief mit lauter Stimme, wie ein Löwe brüllt. Und als er gerufen hatte, ließen die sieben Donner ihre Stimmen vernehmen.

  1. Er hielt in seiner Hand ein offenes Büchlein: Ist dieses Büchlein dasselbe wie die Schriftrolle, die niemand außer Jesus in Offenbarung 5, 1-7 öffnen konnte? Wenn man den starken Engel für Jesus hält, dann könnte das sehr wohl sein. Aber Johannes benutzte unterschiedliche Bezeichnungen, um das Buch in Offenbarung 5, 1 und das Büchlein zu beschreiben, von dem hier die Rede ist. Es ist vermutlich am besten, sie als verschieden, aber wahrscheinlich zusammengehörig zu betrachten. Das Büchlein ist vielleicht eine Kurzfassung des Zustands aller Dinge, der Teil, den Johannes selbst sehen und über den er schreiben wird.
    1. „Der Inhalt des Büchleins wird nirgendwo in der Offenbarung mitgeteilt, aber er scheint in dieser Vision die schriftliche Vollmacht darzustellen, die dem Engel zur Erfüllung seines Auftrags gegeben wurde.“ (Walvoord)
    2. Clarke schreibt über das Büchlein: „Das bezeichnet wahrscheinlich einen Plan Gottes, der lange Zeit verborgen war, nun aber kurz davorsteht, offenbar zu werden. Aber wer weiß, was er bedeutet?“
  2. Er setzte seinen rechten Fuß auf das Meer, den linken aber auf die Erde: Die Position der Füße des Engels verdeutlicht seine Autorität über Land und Meer. Seine Autorität ist entweder direkt (wenn der starke Engel Jesus ist) oder indirekt (wenn es sich tatsächlich um ein Engelwesen als Bote Gottes handelt).
    1. Die Position seiner Füße „deutet auf die vollständige Autorität über die gesamte irdische Situation hin“. (Walvoord)
    2. Er hat seine Füße sowohl auf dem Land als auch auf dem Meer, „um zu zeigen, dass er über beides die Befehlsgewalt hatte und dass seine Macht allumfassend war, da alle Dinge unter seinen Füßen lagen“. (Clarke)
  3. Als er gerufen hatte, ließen die sieben Donner ihre Stimmen vernehmen: Dies bezieht sich auf dieselbe Vorstellung von der donnernden Stimme Gottes, wie sie in Psalm 29 beschrieben wird, wobei der Satz „die Stimme des Herrn“ siebenmal wiederholt wird.
    1. Die Stimme des Herrn schallt über den Wassern; der Gott der Herrlichkeit donnert, der Herr über großen Wassern. Die Stimme des Herrn ist stark, die Stimme des Herrn ist herrlich. Die Stimme des Herrn zerbricht die Zedern, der Herr zerbricht die Zedern des Libanon, und er macht sie hüpfen wie ein Kalb, den Libanon und den Sirjon wie einen jungen Büffel. Die Stimme des Herrn sprüht Feuerflammen, die Stimme des Herrn erschüttert die Wüste, der Herr erschüttert die Wüste Kadesch. Die Stimme des Herrn macht Hirschkühe gebären und entblättert die Wälder, und in seinem Tempel ruft alles »Herrlichkeit!«. (Psalm 29, 3-9)

3. Johannes wird befohlen, nicht aufzuschreiben, was die Donnerstimmen gesagt haben

Offenbarung 10, 4

Offenbarung 10, 4
Und als die sieben Donner ihre Stimmen hatten vernehmen lassen, wollte ich schreiben; da hörte ich eine Stimme aus dem Himmel, die zu mir sprach: Versiegle, was die sieben Donner geredet haben, und schreibe diese Dinge nicht auf!

  1. Ich wollte schreiben … schreibe diese Dinge nicht auf: Das irritiert natürlich viele Kommentatoren und lässt den Spekulationen freien Lauf. Was haben sie gesagt, was Johannes uns nicht sagen darf?
  2. Schreibe diese Dinge nicht auf: Wenn es Johannes nicht erlaubt war, uns zu berichten, was sie gesagt haben, warum sollte er dieses Ereignis überhaupt erwähnen? Ein Ergebnis davon sollte sein, uns wissen zu lassen, dass es Geheimnisse im prophetischen Geschehen gibt, was uns dazu veranlassen sollte, vorsichtig mit unseren Auslegungen und Vorhersagen zu sein.
    1. „Dies veranschaulicht das Prinzip, dass Gott zwar viel geoffenbart hat, dass es aber Geheimnisse gibt, bei denen es Gott zu diesem Zeitpunkt noch nicht für geeignet hielt, sie den Menschen zu offenbaren.“ (Walvoord)
    2. „Lasst uns nicht so vorgehen, als sei alles offenbart worden.“ (L. Morris)

4. Kein weiterer Aufschub

Offenbarung 10, 5-7

Offenbarung 10, 5-7
Und der Engel, den ich auf dem Meer und auf der Erde stehen sah, erhob seine Hand zum Himmel und schwor bei dem, der lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit, der den Himmel geschaffen hat und was darin ist, und die Erde und was darauf ist, und das Meer und was darin ist: Es wird keine Zeit mehr sein; sondern in den Tagen der Stimme des siebten Engels, wenn er in die Posaune stoßen wird, soll das Geheimnis Gottes vollendet werden, wie er es seinen Knechten, den Propheten, als Heilsbotschaft verkündet hat.

  1. Er erhob seine Hand zum Himmel und schwor bei dem, der lebt von Ewigkeit zu Ewigkeit: Der starke Engel leistete einen feierlichen Schwur und erklärte, dass das Ende unwiderruflich in Gang gesetzt ist, dass keine Zeit mehr sein wird. Es gab absolut kein Zurück mehr.
  2. Das Geheimnis Gottes vollendet: Welches Geheimnis? Ein wichtiger Aspekt dieses Geheimnisses ist, dass er es seinen Knechten, den Propheten … verkündet hat.
    1. Im biblischen Vokabular ist ein Geheimnis nicht etwas, das niemand kennt. Ein Geheimnis ist etwas, das niemand wissen kann, es sei denn, es wurde ihm offenbart. Wenn man es durch Intuition oder persönliches Nachforschen wissen könnte, ist es kein Geheimnis, denn Geheimnisse müssen offenbart werden. Deshalb kann etwas bekannt und dennoch ein Geheimnis im biblischen Sinne sein.
  3. Das Geheimnis Gottes: Es ist schwer zu sagen, was genau dieses Geheimnis Gottes ist, denn der Ausdruck – oder ähnliche Ausdrücke – wird für viele verschiedene Aspekte von Gottes Plan verwendet.
      1. Die endgültige Bekehrung des jüdischen Volkes wird als Geheimnis bezeichnet (Römer 11, 25).
      2. Gottes Absicht für die Gemeinde wird als Geheimnis bezeichnet (Epheser 3, 3-11).
      3. Die Errettung der Vollzahl der Heiden wird als Geheimnis bezeichnet (Römer 11, 25).
      4. Die lebendige Gegenwart Jesu im Gläubigen wird als Geheimnis Gottes bezeichnet (Kolosser 1, 27-2, 3).
      5. Das Evangelium selbst wird als Geheimnis Christi bezeichnet (Kolosser 4, 3).
  4. Das Geheimnis Gottes: In diesem Zusammenhang bezieht sich das Geheimnis Gottes wahrscheinlich auf die Entfaltung seines allumfassenden Ratschlusses, die Vollendung seines Plans für die Zeitalter.
    1. „Das Geheimnis Gottes, das erfüllt werden muss, entfaltet sich daher im Alten Testament in den vielen Textstellen, die von der Errichtung des Reiches Gottes auf Erden sprechen.“ (Walvoord)
    2. Möglicherweise bezieht sich das Geheimnis auch auf die große Frage: „Warum lässt Gott zu, dass Satan und die Menschheit rebellieren und ihren eigenen Weg gehen?“ Der Plan könnte sein, dass diese Frage, dieses unbeantwortete Geheimnis, unter der Herrschaft Jesu zu Ende geht. Gott beginnt das Ende, seinen allumfassenden Ratschluss, die Zusammenführung (Ausführung, Zusammenfassung) aller Dinge zu einem Ganzen in Jesus (Epheser 1, 9-10).
    3. Gott bestätigt freimütig, dass das Leben heute voller Geheimnisse ist; aber es wird nicht immer so sein. Eines Tages werden alle Fragen dieser Zeit beantwortet sein.

B. Johannes wird beauftragt zu predigen

1. Merkwürdige Anweisungen

Offenbarung 10, 8-9

Offenbarung 10, 8-9
Und die Stimme, die ich aus dem Himmel gehört hatte, redete nochmals mit mir und sprach: Geh hin, nimm das offene Büchlein in der Hand des Engels, der auf dem Meer und auf der Erde steht! Und ich ging zu dem Engel und sprach zu ihm: Gib mir das Büchlein! Und er sprach zu mir: Nimm es und iss es auf; und es wird dir Bitterkeit im Bauch verursachen, in deinem Mund aber wird es süß sein wie Honig.

  1. Nimm es und iss es auf: Johannes wurde befohlen, das Büchlein von dem starken Engel zu nehmen und es tatsächlich zu essen.
  2. Nimm es und iss es auf: Weil Johannes aufgefordert wurde, das Büchlein zu nehmen, verstehen manche dies als Hinweis darauf, dass Gott seine Offenbarung niemals jemandem aufzwingt und wir immer bereit sein müssen, das anzunehmen, was er uns anbietet. Das mag oft zutreffen, aber bei Paulus auf der Straße nach Damaskus war das nicht der Fall.

2. Ein Buch, das sowohl süß als auch bitter ist

Offenbarung 10, 10-11

Offenbarung 10, 10-11
Und ich nahm das Büchlein aus der Hand des Engels und aß es auf; und es war in meinem Mund süß wie Honig. Als ich es aber aufgegessen hatte, wurde es mir bitter im Bauch. Und er sprach zu mir: Du sollst nochmals weissagen über viele Völker und Nationen und Sprachen und Könige!

  1. Ich nahm das Büchlein aus der Hand des Engels und aß es auf: In Hesekiel 3, 1-3 wurde dem Propheten auch befohlen, eine Schriftrolle zu essen, die Offenbarung Gottes an Israel. „Dieses Motiv des Buchessens ist vertraut und deutet auf die Speisung der Seele durch das Wort Gottes hin.“ (Morgan)
    1. Johannes konnte das Wort Gottes nur dann verkünden, wenn er es zuvor verinnerlicht hatte: „Eine solche Handlung symbolisierte die Aufnahme des Wortes Gottes in das eigene Innerste als notwendige Voraussetzung für die glaubensstarke Verkündigung.“ (Johnson)
  2. Es war in meinem Mund süß wie Honig. Als ich es aber aufgegessen hatte, wurde es mir bitter im Bauch: Dieses Büchlein war zunächst süß im Geschmack, wird aber im Magen des Johannes bitter. „Jede Offenbarung von Gottes Absichten … ist ‚bitter-süß‘, da sie sowohl Gericht als auch Barmherzigkeit enthält.“ (Swete)
    1. „Als er darüber nachdachte, war es entweder so geheimnisvoll, dass er es nicht begreifen konnte, oder der Inhalt war so traurig, dass es ihm große Schwierigkeiten bereitete.“ (Poole)
    2. Jeder wirksame Verkündiger von Gottes Wort hat sowohl die Süße als auch die Bitterkeit erfahren, die mit seinem Wort verbunden sind.
    3. Diejenigen, die glauben, dass die Gemeinde nach der großen Trübsal entrückt wird, argumentieren, dass die Schriftrolle bitter ist, weil das Los der Gläubigen in der Endzeit bitter ist. Mounce ist ein Beispiel für diesen Ansatz: „Die süße Schriftrolle, die bitter wird, ist eine Botschaft für die Gemeinde. Vor dem endgültigen Triumph werden die Gläubigen eine gewaltige Tortur durchmachen.“
  3. Du sollst nochmals weissagen über viele Völker und Nationen und Sprachen und Könige: Was auch immer die Schriftrolle enthält ist mit Johannes‘ Auftrag, allen Menschen zu prophezeien, verbunden. Diese Botschaft richtet sich nicht nur an die Gemeinde.
    1. Die Prophezeiung des Johannes sprach vom Schicksal der ganzen Welt, nicht nur einer Nation, eines Reiches oder Kaisers, wie z.B. vom Römischen Reich.

© 2022 The Enduring Word Bible Commentary by David Guzik.

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