Römer 2 – Die Schuld des Moralisten und des Juden

A. Gott verurteilt die Moralisten

1. Eine Abrechnung mit denen, die sich über andere erheben

Römer 2, 1-3

Römer 2, 1-3
Darum bist du nicht zu entschuldigen, o Mensch, wer du auch seist, der du richtest! Denn worin du den anderen richtest, verurteilst du dich selbst; denn du, der du richtest, verübst ja dasselbe! Wir wissen aber, dass das Gericht Gottes der Wahrheit entsprechend über die ergeht, welche so etwas verüben. Denkst du etwa, o Mensch, der du die richtest, welche so etwas verüben, und doch das Gleiche tust, dass du dem Gericht Gottes entfliehen wirst?

  1. Darum bist du nicht zu entschuldigen, o Mensch, wer du auch seist, der du richtest: In Römer 1 weist Paulus auf die Menschen hin, deren Sünde am offensichtlichsten ist. Er spricht nun zu denen, deren Verhalten im Allgemeinen als moralisch korrekt angesehen wird. Paulus nimmt an, dass sie sich selbst dazu beglückwünschen, nicht wie die in Römer 1 beschriebenen Menschen zu sein.
    1. Ein gutes Beispiel für diese Denkweise ist Jesu Gleichnis vom Pharisäer und dem Zöllner. Wenn wir diese Figuren aus Jesu Gleichnis nehmen, hat Paulus in Römer 1 zum Zöllner gesprochen und wendet sich nun an den Pharisäer (Lukas 18, 10-14).
    2. Viele Juden, die zur Zeit von Paulus lebten, waren typische Moralisten, aber seine Worte in Römer 2, 1-16 scheinen sich auf eine größere Gruppe zu beziehen. Da war zum Beispiel Seneca, der römische Politiker, Morallehrer und Hauslehrer von Nero. Er würde Paulus in Bezug auf die Moral der meisten Heiden voll und ganz zustimmen, aber ein Mann wie Seneca würde denken: „Ich unterscheide mich auf jeden Fall von diesen unmoralischen Menschen“.
    3. Viele Christen bewunderten Seneca und sein starkes Eintreten für Dinge wie ‚Moral‘ und ‚Familienwerte‘. „Aber allzu oft duldete er in sich selbst Laster, die sich nicht so sehr von denen unterschieden, die er in anderen verurteilte – das offenkundigste Beispiel war seine Mittäterschaft bei der Ermordung von Agrippina, Neros Mutter“. (Bruce)
  2. Denn du, der du richtest, verübst ja dasselbe: Nachdem er die Zustimmung des Moralisten zur Verurteilung derer bekommen hat, die offensichtlich gesündigt haben, benutzt Paulus nun dasselbe Argument, um den Moralisten selbst zu verurteilen. Das liegt daran, dass du, der du richtest, am Ende dasselbe tust.
    1. Wenn wir einen anderen Menschen richten, verweisen wir auf einen Maßstab, der außerhalb von uns selbst liegt – und dieser Maßstab verurteilt jeden, nicht nur den offensichtlichen Sünder. „Da du die Gerechtigkeit Gottes kennst, was dadurch bewiesen wird, dass du andere verurteilst, bist du ohne Entschuldigung, weil du dich selbst verurteilst, wenn du andere richtest.“ (Murray)
    2. Verübst ja dasselbe: Man beachte, dass der Moralist nicht dafür verurteilt wird, dass er andere richtet, sondern dafür, dass er sich der gleichen Dinge schuldig macht, wegen derer er andere richtet. Das ist etwas, wogegen der Moralist Einspruch erheben würde („Ich bin überhaupt nicht wie sie!“)), aber Paulus wird zeigen, dass er es tatsächlich ist.
    3. Wuest, zitiert Denney´s Aussage zu dem Text `für dich, den Richter, der die gleichen Dinge praktiziert´: „Nicht, dass ihr die gleichen Dinge tut, aber euer Verhalten ist dasselbe, d. h. ihr sündigt gegen das Licht. Auch die Juden haben gesündigt, aber ihre Sünden waren nicht dieselben wie die der Heiden“.
  3. Nach der Wahrheit: Das bedeutet „gemäß den Tatsachen des Falles“. Gott wird den Moralisten auf der Grundlage der Fakten beurteilen (und verurteilen).
  4. Der Punkt ist klar: Wenn der Moralist genauso schuldig ist wie der, dessen Sünde so offensichtlich ist, wie werden sie dann dem Gericht Gottes entfliehen?
    1. Das ‚Du‘ in der Frage ist entscheidend: „[Denkst du etwa,] dass du dem Gericht Gottes entfliehen wirst?“ Paulus erniedrigt sich hier und lässt seinen Leser wissen, dass er keine Ausnahme von diesem Prinzip darstellt. Paulus wusste, wie er zum Herzen seiner Leser gelangen konnte. „Unsere Ermahnungen sollten wie gespaltene Pfeile sein, die in den Herzen der Menschen stecken sollen; und nicht nur verwunden, wie andere Pfeile.“ (Trapp)
    2. Lenski über den Moralisten: „Paulus geht es um weit mehr als nur darum, auch sie der Ungerechtigkeit zu überführen. Er nimmt ihnen ihren Moralismus und ihr Moralisieren weg, weil sie darin den Weg sehen, dem Zorn Gottes zu entkommen“.

2. Gottes Urteil über den Moralisten wird ausgesprochen

Römer 2, 4-5

Römer 2, 4-5
Oder verachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut, und erkennst nicht, dass dich Gottes Güte zur Buße leitet? Aber aufgrund deiner Verstocktheit und deines unbußfertigen Herzens häufst du dir selbst Zorn auf für den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes.

  1. Oder verachtest du den Reichtum seiner Güte, Geduld und Langmut: Paulus weist darauf hin, dass der Moralist sich selbst die Güte, Geduld und Langmut Gottes für sich in Anspruch nimmt, was ihn zu einer demütigen Reue anstatt zu einer Haltung der Überlegenheit bringen sollte.
    1. Güte kann als Gottes Wohlwollen uns gegenüber in Bezug auf unsere vergangenen Sünden betrachtet werden. Er ist gut zu uns gewesen, weil er uns noch nicht verurteilt hat, obwohl wir es verdient hätten.
    2. Geduld kann als Gottes Wohlwollen uns gegenüber in Bezug auf unsere gegenwärtige Sünde angesehen werden. Gerade heute – ja, gerade in dieser Stunde – haben wir seine Herrlichkeit verfehlt, und trotzdem hält er sein Urteil gegen uns zurück.
    3. Langmut kann als Gottes Wohlwollen uns gegenüber im Hinblick auf unsere zukünftige Sünde angesehen werden. Er weiß, dass wir morgen und übermorgen sündigen werden, dennoch hält er sein Urteil gegen uns zurück.
    4. Angesichts all dessen überrascht es nicht, dass Paulus diese drei Aspekte von Gottes Güte uns gegenüber als Reichtum bezeichnet. Der Reichtum der Barmherzigkeit Gottes lässt sich an vier Aspekten messen:
      1. Seine Größe – einem großen Mann Unrecht zu tun, ist ein großes Unrecht, und Gott ist der Größte von allen – und doch erweist er uns seine Gnade.
      2. Seine Allwissenheit – wenn jemand all unsere Sünden kennen würde, würde er uns dann seine Gnade erweisen? Doch Gott tut genau das.
      3. Seine Macht – manchmal kann ein Unrecht nicht beigelegt werden, weil es nicht in unserer Macht steht, doch Gott ist in der Lage, jedes Unrecht gegen ihn zu begleichen – und er ist reich an Barmherzigkeit.
      4. Das Objekt seiner Gnade: der einfache Mensch – würden wir einer Ameise Barmherzigkeit erweisen? Doch Gott ist reich an Gnade.
    5. Da wir wissen, wie groß Gottes Güte ist, ist es eine große Sünde, wenn wir die Gnade Gottes als selbstverständlich ansehen, und wir kommen leicht zu der Überzeugung, dass wir sie verdient haben.
  2. Geduld und Langmut: Die Menschen halten dies für eine Schwäche Gottes. Sie sagen Dinge wie: „Wenn es einen Gott im Himmel gibt, soll er mich erschlagen!“ Wenn das nicht geschieht, sagen sie: „Seht ihr, ich habe euch doch gesagt, dass es keinen Gott gibt.“ Die Menschen interpretieren Gottes Geduld und Langmut fälschlicherweise als seine Zustimmung, und sie weigern sich, von ihrer Sünde umzukehren.
    1. „Mir scheint, dass jeden Morgen, wenn ein Mensch aufwacht, der noch immer unbußfertig ist, und sich nicht in der Hölle wiederfindet, das Sonnenlicht zu sagen scheint: Ich lasse dir noch einen weiteren Tag scheinen, damit du an diesem Tag Buße tust. Wenn dein Bett dich nachts aufnimmt, scheint es zu sagen: Ich will dir noch eine Nacht Ruhe geben, damit du lebst, um dich von deinen Sünden abzuwenden und Jesus zu vertrauen. Jeder Bissen Brot, der auf den Tisch kommt, sagt: Ich muss deinen Körper nähren, damit du noch Raum zur Umkehr hast. Jedes Mal, wenn Du die Bibel aufschlägst, sagen die Seiten: Wir sprechen zu Dir, damit Du umkehrst. Jedes Mal, wenn du eine Predigt hörst, wenn es eine Predigt ist, wie Gott sie uns predigen lassen möchte, bittet sie dich, dich dem Herrn zuzuwenden und zu leben.“ (Spurgeon)
  3. Nicht zu wissen, dass die Güte Gottes Sie zur Buße führt: Viele Menschen missverstehen die Güte Gottes gegenüber den Bösen. Sie verstehen nicht, dass der einzige Grund dafür der ist, sie zur Umkehr zu führen.
    1. Die Menschen sollten die Güte Gottes sehen und verstehen:
      1. Gott ist besser zu ihnen gewesen, als sie es verdienen.
      2. Gott war freundlich zu ihnen, als sie ihn ignoriert haben.
      3. Gott war freundlich zu ihnen, als sie ihn verspottet haben.
      4. Gott ist kein grausamer Herr, und sie können sich ihm getrost hingeben.
      5. Gott ist voll und ganz bereit, ihnen zu vergeben.
      6. Wir sollten Gott aus purer Dankbarkeit dienen.
    2. Wartest Du darauf, dass Gott Dich zur Umkehr zwingt? Das tut er nicht; Gott führt dich zur Buße. „Beachtet, liebe Freunde, dass der Herr euch nicht zur Umkehr treibt. Kain wurde als Flüchtling und Vagabund fortgejagt, nachdem er seinen rechtschaffenen Bruder Abel getötet hatte; Judas ging und erhängte sich, weil er von Gewissensbissen getrieben wurde, weil er seinen Herrn verraten hatte; aber die süßeste und beste Reue ist die, die nicht dadurch entsteht, dass sie erzwungen, sondern dass sie gezogen wird: Die Güte Gottes führt dich zur Reue“. (Spurgeon)
    3. „Im Neuen Testament ist die Umkehr nicht nur negativ besetzt. Sie steht für die Hinwendung zu einem neuen Leben in Christus, einem Leben im aktiven Dienst für Gott. Sie sollte nicht mit Reue verwechselt werden, die eine tiefe Traurigkeit über die Sünde ist, der aber die positive Note der Umkehr fehlt.“ (Morris)
  4. Aber aufgrund deiner Verstocktheit und deines unbußfertigen Herzens häufst du dir selbst Zorn auf für den Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes: Wegen dieser Anmaßung über Gottes Gnade kann Paulus mit Recht sagen, dass der Moralist Zorn für den Tag des Zorns anhäuft.
    1. Der Moralist denkt, dass er sich bei Gott einen Vorteil verschafft, während er die ‚Sünder‘ um sich herum verurteilt. In Wirklichkeit häuft er nur den Zorn Gottes an. „Wie die Menschen ihren Reichtum anhäufen, so häuft ihr die Schätze der Strafe an.“ (Poole)
    2. Wenn die Menschen den Zorn Gottes gegen sich aufstauen, was hält die Flut des Zorns zurück? Gott selbst! Er hält sie aufgrund seiner Geduld und Langmut zurück! „Man kann sich das wie eine Last vorstellen, die Gott trägt und die die Menschen immer mehr anhäufen und immer schwerer machen. Es ist ein Wunder, dass Gott auch nur einen Tag lang etwas davon zurückhält; aber er hält die ganze Last zurück und lässt sie nicht auf das Haupt des Sünders herabstürzen.“ (Lenski)
  5. Am Tag des Zorns und der Offenbarung des gerechten Gerichtes Gottes: Als Jesus das erste Mal kam, wurde der liebende Charakter Gottes am deutlichsten offenbart. Wenn Jesus wiederkommt, wird das gerechte Urteil Gottes am deutlichsten zu Tage treten.

3. Gott wird die Moralisten richten, weil auch ihre Werke nicht dem perfekten Maßstab Gottes entsprechen

Römer 2, 6-10

Römer 2, 6-10
Der jedem vergelten wird nach seinen Werken: denen nämlich, die mit Ausdauer im Wirken des Guten Herrlichkeit, Ehre und Unvergänglichkeit erstreben, ewiges Leben; denen aber, die selbstsüchtig und der Wahrheit ungehorsam sind, dagegen der Ungerechtigkeit gehorchen, Grimm und Zorn! Drangsal und Angst über jede Menschenseele, die das Böse vollbringt, zuerst über den Juden, dann auch über den Griechen; Herrlichkeit aber und Ehre und Friede jedem, der das Gute tut, zuerst dem Juden, dann auch dem Griechen.

  1. Wird jedem vergelten nach seinen Werken: Dieser Gedanke, dass Gott sowohl den Moralisten als auch den offensichtlichen Sünder verurteilt ist schrecklich und furchterregend.
  2. Ewiges Leben: Wenn jemand wirklich immer nur das tun würde, was gut und richtig ist, könnte er sich das ewige Leben aus eigenen Stücken verdienen – aber das gibt es nicht, weil alle auf die eine oder andere Weise selbstsüchtig sind, waren oder sein werden und der Wahrheit ungehorsam sind, dagegen der Ungerechtigkeit gehorchen.
  3. Drangsal und Angst über jede Menschenseele, die das Böse vollbringt: Weil alle diesem Maßstab von Gottes beständiger Güte nicht gerecht werden, wird Gottes Zorn über alle kommen, die Böses tun – ohne Rücksicht darauf, ob sie Juden oder Heiden sind.
    1. Dieses Gericht kommt zuerst zu den Juden. Wenn sie die ersten sind, die das Evangelium empfangen (Römer 1, 16) und die ersten, die belohnt werden (Römer 2, 10), dann sind sie auch die ersten, die gerichtet werden.
    2. Hinter dem Wort Drangsal verbirgt sich der Gedanke des ‚Hochkochens‘, also ein leidenschaftlicher Ausbruch. Das Wort Zorn entspringt der Vorstellung von einer Schwellung, die schließlich aufbricht, und bezieht sich eher auf einen Zorn, der von einer ausgeglichenen Persönlichkeit ausgeht.

B. Gottes Urteil über den jüdischen Menschen

1. Gottes Grundsatz der Unvoreingenommenheit

Römer 2, 11-13

Römer 2, 11-13
Denn bei Gott gibt es kein Ansehen der Person; alle nämlich, die ohne Gesetz gesündigt haben, werden auch ohne Gesetz verlorengehen; und alle, die unter dem Gesetz gesündigt haben, werden durch das Gesetz verurteilt werden — denn vor Gott sind nicht die gerecht, welche das Gesetz hören, sondern die, welche das Gesetz befolgen, sollen gerechtfertigt werden.

  1. Denn bei Gott gibt es kein Ansehen der Person: Das Wort Ansehen wird in der KJV mit ‚Parteilichkeit‘ übersetzt. Das Wort stammt von zwei altgriechischen Wörtern, die zusammengesetzt wurden – empfangen und sich stellen. Es bedeutet, die Dinge auf der Grundlage von Äußerlichkeiten oder vorgefassten Meinungen zu beurteilen.
    1. Einige alte Rabbiner lehrten, dass Gott den Juden gegenüber parteiisch sei. Sie sagten: „Gott wird die Heiden mit einem Maß richten und die Juden mit einem anderen.“
  2. Und alle, die unter dem Gesetz gesündigt haben, werden durch das Gesetz verurteilt werden — denn vor Gott sind nicht die gerecht, welche das Gesetz hören, sondern die, welche das Gesetz befolgen, sollen gerechtfertigt werden: Gottes gerechtes Urteil wird nicht deswegen aufgehoben, weil jemand das Gesetz gehört hat; es wird nur dann nicht vollzogen, wenn jemand das Gesetz tatsächlich befolgt.
    1. Die jüdische Mensch – oder die religiöse Person – mag denken, dass sie gerettet ist, weil sie das Gesetz hat; aber hat sie es eingehalten? Der Heide mag denken, dass er gerettet ist, weil er das Gesetz nicht hat, aber hat er sich an die Gebote seines eigenen Gewissens gehalten?
    2. „Die Menschen werden nicht deshalb verurteilt werden, weil sie das Gesetz kennen oder nicht kennen, sondern weil sie gesündigt haben“. (Morris)
  3. Alle nämlich, die ohne Gesetz gesündigt haben, werden auch ohne Gesetz verlorengehen: Die Verurteilung der Sünde kann mit oder ohne dem Gesetz erfolgen.

2. Wer das Gesetz besitzt, hat am Tag des Jüngsten Gerichts keinen Vorteil davon

Römer 2, 14-16

Römer 2, 14-16
Wenn nämlich Heiden, die das Gesetz nicht haben, doch von Natur aus tun, was das Gesetz verlangt, so sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst ein Gesetz, da sie ja beweisen, dass das Werk des Gesetzes in ihre Herzen geschrieben ist, was auch ihr Gewissen bezeugt, dazu ihre Überlegungen, die sich untereinander verklagen oder auch entschuldigen — an dem Tag, da Gott das Verborgene der Menschen durch Jesus Christus richten wird nach meinem Evangelium.

  1. So sind sie, die das Gesetz nicht haben, sich selbst ein Gesetz: Paulus erklärt, warum der Heide ohne das Gesetz verurteilt werden kann. Ihr Gewissen (das das Werk des Gesetzes ist, das in ihren Herzen geschrieben steht) reicht aus, um sie zu verurteilen – oder, um sie zu rechtfertigen.
    1. Geschrieben in ihre Herzen: Viele heidnische Autoren die zu Paulus‘ Zeit lebten, bezogen sich auf das ‚ungeschriebene Gesetz‘ im Menschen. Sie betrachteten es als etwas, das den Menschen auf den richtigen Weg verweist. Obwohl es nicht in geschriebenen Gesetzen festgehalten ist, ist es in mancher Hinsicht wichtiger als das geschriebene Gesetz.
    2. Ein Gesetz für sich selbst bedeutet nicht, dass diese ‚gehorsamen Heiden‘ sich ihr eigenes Gesetz ausdachten, sondern dass sie dem Gewissen gehorsam waren, da das Gesetz in ihnen selbst wohnte.
    3. „Er zeigt in der Tat, dass die Unwissenheit seitens der Heiden vergeblich als Entschuldigung vorgebracht wird, da sie durch ihre eigenen Taten beweisen, dass sie gewisse Maßstäbe der Gerechtigkeit haben.“ (Calvin)
  2. Ihre Gedanken beschuldigen oder entschuldigen sie: Theoretisch könnte ein Mensch gerechtfertigt (‚entschuldigt‘)) werden, wenn er sich nach seinem Gewissen richtet. Leider hat jeder Mensch sowohl gegen sein Gewissen (die innere Offenbarung Gottes an den Menschen) als auch gegen die schriftliche Offenbarung Gottes verstoßen.
    1. Während Paulus in Römer 2, 14 sagt, dass ein Nichtjude von Natur aus die im Gesetz enthaltenen Dinge tun kann, achtet er darauf, nicht zu sagen, dass ein Nichtjude von Natur aus die Anforderungen des Gesetzes erfüllen könnte.
    2. Obwohl Gott in jedem Menschen tätig ist (was zu einem Gewissen führt), kann der Mensch dieses Werk verderben, so dass das Gewissen von Mensch zu Mensch unterschiedlich ist. Wir wissen auch, dass unser Gewissen durch Sünde und Rebellion beschädigt, aber dann in Jesus wiederhergestellt werden kann.
    3. Wenn unser Gewissen uns zu Unrecht verurteilt, können wir uns mit dem Gedanken trösten, dass Gott größer ist als unser Herz (1. Johannes 3, 20).
  3. Auch ihr Gewissen legt Zeugnis ab: Menschen, die Gottes Wort nie selbst gehört haben, haben immer noch einen moralischen Kompass, dem gegenüber sie Rechenschaft ablegen müssen – das Gewissen.
    1. „Gott beschreibt, wie er alle Menschen geschaffen hat: Es gibt ein ‚Werk‘ in ihnen, das ihnen ein moralisches Bewusstsein verschafft.“ (Newell)
    2. „Er sagt nicht, dass das Gesetz in ihre Herzen geschrieben ist, wie die Leute oft sagen, sondern dass das Werk des Gesetzes, das, was das Gesetz von den Menschen verlangt, dort niedergeschrieben ist.“ (Morris)
  4. Der Tag, an dem Gott richten wird: An diesem Tag wird kein Mensch dem Gericht Gottes entgehen, indem er behauptet, seine schriftliche Offenbarung nicht zu kennen. Die Verletzung von Gottes innerer Offenbarung reicht aus, um uns alle zu verurteilen.
    1. „Deshalb wird Gott alle Völker danach richten, wie sie dieses Wort gebrauchen und missbrauchen, ob es ihnen ins Herz oder auf steinerne Tafeln geschrieben wurde.“ (Klara)
  5. Nach meinem Evangelium: Es ist wichtig zu beachten, dass der Tag des Gerichts ein Teil dessen ist, was Paulus in seinem Evangelium sagt. Er scheute sich nicht, darauf hinzuweisen, dass der Mensch Gott gegenüber absolut dazu verpflichtet ist, Rechenschaft abzulegen.
    1. ‚’Mein Evangelium‘. Zeigt dies nicht seinen Mut? Als wollte er sagen: „Ich schäme mich des Evangeliums Christi nicht; denn es ist die Kraft Gottes zum Heil für jeden, der glaubt. Er sagt ‚mein Evangelium‘, wie ein Soldat von ‚meiner Fahne‘ oder von ‚meinem König‘ spricht. Er ist entschlossen, diese Fahne zum Sieg zu tragen und dieser königlichen Wahrheit bis zum Tod zu dienen.“ (Spurgeon)
  6. Gott wird das Verborgene der Menschen durch Jesus Christus richten: Dieses Konzept ist unverkennbar christlich. Die Juden lehrten, dass Gott, der Vater, allein die Welt richten werde und das Gericht niemand anderem übertrage – nicht einmal dem Messias.

3. Womit sich der jüdische Mensch brüstet

Römer 2, 17-20

Römer 2, 17-20
Siehe, du nennst dich einen Juden und verlässt dich auf das Gesetz und rühmst dich Gottes, und kennst [seinen] Willen und verstehst zu prüfen, worauf es ankommt, weil du aus dem Gesetz unterrichtet bist; und du traust dir zu, ein Leiter der Blinden zu sein, ein Licht derer, die in der Finsternis sind, ein Erzieher der Unverständigen, ein Lehrer der Unmündigen, der den Inbegriff der Erkenntnis und der Wahrheit im Gesetz hat:

  1. Siehe, du nennst dich einen Juden und verlässt dich auf das Gesetz und rühmst dich Gottes: Jede ‚Prahlerei‘ des jüdischen Menschen in diesem Abschnitt bezieht sich darauf, dass er das Gesetz besitzt. Das jüdische Volk zur Zeit des Paulus war äußerst stolz und zuversichtlich auf die Tatsache, dass Gott ihnen als Volk sein heiliges Gesetz gegeben hatte. Sie glaubten, dass dies ihren Status als besonders auserwähltes Volk bestätigte und somit ihre Erlösung garantierte.
  2. Und kennst [seinen] Willen und verstehst zu prüfen, worauf es ankommt: Obwohl der Jude das Gesetz dankbar als eine Gabe Gottes empfangen sollte, wird Paulus zeigen, wie der bloße Besitz des Gesetzes niemanden rechtfertigt.

4. Die Anklage die gegen den jüdischen Menschen erhoben wurde

Römer 2, 21-24

Römer 2, 21-24
Nun also, du lehrst andere, dich selbst aber lehrst du nicht? Du verkündigst, man solle nicht stehlen, und stiehlst selber? Du sagst, man solle nicht ehebrechen, und brichst selbst die Ehe? Du verabscheust die Götzen und begehst dabei Tempelraub? Du rühmst dich des Gesetzes und verunehrst doch Gott durch Übertretung des Gesetzes? Denn der Name Gottes wird um euretwillen gelästert unter den Heiden, wie es geschrieben steht.

  1. Nun also, du lehrst andere, dich selbst aber lehrst du nicht? Es läuft auf diesen Grundsatz hinaus: „Du hast das Gesetz, hältst du es auch ein? Du siehst, wie andere das Gesetz brechen. Siehst du auch, wie du es brichst?“
    1. Ein Großteil des rabbinischen Judentums zu Paulus‘ Zeiten legte das Gesetz so aus, dass sie dachten, sie seien durch das Gesetz vollkommen gerechtfertigt. Jesus entlarvte den Fehler solcher Auslegungen (Matthäus 5, 19-48).
    2. Gott wendet sein Gesetz sowohl auf unsere Handlungen als auch auf unsere Einstellungen an. Manchmal wollen wir nur unsere Einstellungen bewerten, manchmal nur unsere Handlungen. Gott wird uns sowohl für das zur Rechenschaft ziehen, was wir tun, als auch dafür, warum wir so handeln.
    3. „Heuchler können von Religion reden, als ob ihre Zungen nach einem Muster verliefen, sie sind schöne Bekenner, aber üble Sünder; wie jener fleischliche Kardinal Cremensis, der Legat des Papstes, der 1114 n. Chr. hierhergeschickt wurde, um den Priestern die Ehe zu verbieten, und als er auf frischer Tat mit einer gewöhnlichen Dirne ertappt wurde, entschuldigte er sich damit, dass er selbst kein Priester sei, sondern nur der, der sie korrigiert.“ (Trapp)
  2. Du verabscheust die Götzen und begehst dabei Tempelraub? Morris spricht vom Tempelraub. „Offensichtlich gab es Leute, die der Meinung waren, dass ein Jude aus unlauteren Praktiken, die mit dem Götzendienst verbunden waren, durchaus Gewinn ziehen konnte, und Paulus könnte dies durchaus im Sinn gehabt haben.“
  3. Denn der Name Gottes wird um euretwillen gelästert unter den Heiden, wie es geschrieben steht: Paulus erinnert den Juden daran, dass Gott im Alten Testament gesagt hat, dass die Tatsache, dass die Juden das Gesetz nicht befolgt haben, die Heiden dazu bringt, Gott zu verachten.

5. Die Bedeutungslosigkeit der Beschneidung

Römer 2, 25-29

Römer 2, 25-29
Die Beschneidung nämlich hat nur Wert, wenn du das Gesetz hältst; bist du aber ein Übertreter des Gesetzes, so ist deine Beschneidung zur Unbeschnittenheit geworden. Wenn nun der Unbeschnittene die Rechtsbestimmungen des Gesetzes befolgt, wird ihm dann nicht seine Unbeschnittenheit als Beschneidung angerechnet werden? Und wird nicht der von Natur Unbeschnittene, der das Gesetz erfüllt, dich richten, der du trotz Buchstabens und Beschneidung ein Übertreter des Gesetzes bist? Denn nicht der ist ein Jude, der es äußerlich ist; auch ist nicht das die Beschneidung, die äußerlich am Fleisch geschieht; sondern der ist ein Jude, der es innerlich ist, und [seine] Beschneidung [geschieht] am Herzen, im Geist, nicht dem Buchstaben nach. Seine Anerkennung kommt nicht von Menschen, sondern von Gott.

  1. Die Beschneidung nämlich hat nur Wert, wenn du das Gesetz hältst: Paulus erkennt an, dass ein Jude protestieren und sagen kann, dass seine Errettung auf der Tatsache beruht, dass er ein Nachkomme Abrahams ist, was durch die Beschneidung bewiesen ist. Paulus antwortet zu Recht, dass dies in Bezug auf die Rechtfertigung bedeutungslos ist.
    1. Der Jude glaubte, dass seine Beschneidung sein Seelenheil garantiere. Er könnte in der kommenden Welt bestraft werden, aber er könnte niemals verloren gehen.
    2. In der Zeit als Paulus lebte und wirkte, lehrten einige Rabbiner, dass Abraham am Eingang der Hölle saß und sicherstellte, dass keiner seiner beschnittenen Nachkommen dorthin ging. Einige Rabbiner lehrten auch: „Gott wird die Heiden mit einem Maß richten und die Juden mit einem anderen“ und „Alle Israeliten werden an der zukünftigen Welt teilhaben.“ (Barclay)
    3. Die Beschneidung (oder Taufe – oder jedes andere Ritual an sich) rettet niemanden. In der Antike beschnitten die Ägypter auch ihre Jungen, aber es machte sie nicht zu Anhängern des wahren Gottes. Schon zu Abrahams Zeiten wurde Ismael (der Sohn des Fleisches) beschnitten, aber das machte ihn nicht zum Sohn des Bundes.
    4. Die Beschneidung und die Taufe tun in etwa das Gleiche wie ein Etikett auf einer Dose. Wenn das Etikett nicht mit dem übereinstimmt, was sich in der Dose befindet, stimmt etwas nicht! Wenn sich Karotten in der Dose befinden, kannst Du ein Etikett mit der Aufschrift ‚Erbsen‘ anbringen, aber es ändert nichts an dem, was sich im Inneren der Dose befindet. Wenn man wiedergeboren wird, ändert sich der Inhalt der Dose, und dann kann man das entsprechende Etikett auf die Außenseite der Dose kleben.
    5. Natürlich ist dies kein neuer Gedanke. Das mosaische Gesetz selbst lehrt dieses Prinzip: So beschneidet nun die Vorhaut eures Herzens und seid nicht mehr halsstarrig (5. Mose 10, 16).
  2. Wenn nun der Unbeschnittene die Rechtsbestimmungen des Gesetzes befolgt: Wenn ein Nichtjude die gerechten Anforderungen des Gesetzes durch sein Gewissen halten würde (wie Römer 2, 15 zeigt), wäre er dann nicht gerechtfertigt, anstelle des beschnittenen jüdischen Mannes, der das Gesetz nicht hielt? Der Punkt wird betont: es reicht nicht aus, das Gesetz zu haben oder eine Zeremonie abzuhalten. Gott verlangt Rechtschaffenheit.
    1. Morris zitiert Manson: „Wenn man sich an das Gute hält, das man kennt, wird man von Gott akzeptiert werden; aber das ist ein sehr großes ‚wenn‘“.
  3. Und wird nicht der von Natur Unbeschnittene, der das Gesetz erfüllt, dich richten, der du trotz Buchstabe und Beschneidung ein Übertreter des Gesetzes bist? Das ist die Antwort, die Gott demjenigen gibt, der sagt: „Was ist mit dem Pygmäen in Afrika, der nie das Evangelium gehört hat?“ Gott wird diesen Pygmäen danach beurteilen, was er gehört hat und wie er danach gelebt hat. Das bedeutet natürlich, dass der Pygmäe vor Gott schuldig sein wird, denn niemand hat perfekt nach seinem Gewissen gelebt oder perfekt auf das reagiert, was wir durch die Schöpfung von Gott wissen können.
    1. Das Problem mit dem ‚unschuldigen Eingeborenen‘ besteht darin, dass wir nirgendwo einen unschuldigen Eingeborenen finden können.
    2. „Was ist mit dem Pygmäen in Afrika, der das Evangelium nicht gehört hat?“ ist eine gute Frage, aber es gibt zwei weitaus wichtigere Fragen:
      1. Was ist mit dir, der du das Evangelium hörst, es aber ablehnst? Welche Entschuldigung gibt es für dich?
      2. Was ist mit dir, dem befohlen wird, das Evangelium zu diesem Pygmäen in Afrika zu bringen (Matthäus 28, 19), der sich aber weigert, es zu tun?
  4. Seine Anerkennung kommt nicht von Menschen, sondern von Gott: Alle äußerlichen Zeichen der Religion mögen uns das Lob der Menschen einbringen, aber die gilt nicht für das Lob von Gott. Der Beweis für unsere Rechtschaffenheit vor Gott ist nicht in äußeren Zeichen oder Werken enthalten, und er wird auch nicht durch unsere Abstammung sichergestellt. Der Beweis findet sich im Werk Gottes, dass er in unserem Herzen vollbringt und das sich durch die Frucht offenbart, die daraus erwächst.
  5. William Newell fasst Römer 2 mit den „Sieben großen Prinzipien von Gottes Gericht“ zusammen, die es wert sind, erwähnt zu werden:
      1. Gottes Gericht entspricht der Wahrheit (Römer 2, 2).
      2. Gottes Gericht wird an der angehäuften Schuld bemessen (Römer 2, 5).
      3. Gottes Gericht wird an den Werken bemessen (Römer 2, 6).
      4. Gottes Gericht ist unvoreingenommen (Römer 2, 11).
      5. Gottes Gericht bezieht sich auf das, was der Mensch getan hat, und nicht darauf, was er wusste (Römer 2, 13).
      6. Gottes Gericht bezieht sich auch auf das Verborgene im Menschen (Römer 2, 16).
      7. Gottes Gericht orientiert sich an den Tatsachen, nicht am religiösen Bekenntnis (Römer 2, 17-29).

© 2022 The Enduring Word Bible Commentary by David Guzik.

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